Vitalisierungsprobleme

Aus Siebel: “Würde und Mut. Zur Anthropologie der Sprache, der Musik und des Rechts auf Gegenwart”, 2.Aufl. 2008, ISBN 978-3-89379-139-2, “Denotiertes”:

Die wesentliche Voraussetzung einer Transformation ist die Denotation. Es wird etwas notiert (Notiz, Bemerkung, Erkennen), das um das de- vermindert ist. Wenn ein Wort eine Notiz ist, die etwas zu sagen hat, Beachtung verlangt, dann ist die De-notation die Respektlosigkeit gegenüber dem Wort und dessen Bedeutung. Der Begriff Denotation ist selbst eine Transformation. Wörtlich übersetzt Weg-notierung, diesen Begriff gibt es im Deutschen nicht. "Denotation" meint, etwas in eine andere Bedeutung hineingebracht zu haben. Eine Transformation betrifft nur die Form, so wird die Bedeutungsminderung nur über den Transzendenzcharakter verständlich: Ein Wort reicht über sich und seine Bedeutung hinaus.

Wenn Sprache vorsieht, dass ihr Wortschatz in ein anderes Gebiet ausserhalb hineinreicht, dann eröffnet dies die Multidimensionalität und damit die Beliebigkeit von Sprache. Die präzise Sprache, die auch meint, was sie sagt, ohne Lücken, stösst auf Unwillen. Es gibt aber kein Ausweichen vor der Beschäftigung damit, und, je "gebildeter", desto mehr Ausweichbedürfnis besteht. Die Beliebigkeit von Sprache wirkt die Beliebigkeit im Umgang.

Wie wollen wir ohne Exaktheit des Denkens zu unserem Selbst gelangen? Ändern wollen wir immer gern die anderen. Und wenn die sich ändern, dann bitte so, wie wir das wollen.

Denotation meint die inhaltliche Bedeutungsverschiebung. "Du Rehlein" als Anrede. "Reh" ist nicht klar definiert, obwohl es zoologisch definiert ist. Es darf aber auch transzendiert metaphorisch verwendet werden. Rehe sind aggressiv, es gibt z.B. den "Wildverbiss". "Reh" darf den Aspekt (sehen-Spectrum-Unsichtbares?) aufzeigen, der noch nicht einmal real sein muss. Worin besteht die Ähnlichkeit zwischen einer Frau und einem Reh? Oder: Was ist bitte ein "Muschelmäuschen"?

Rehe sind nicht scheu, sondern Fluchttiere, die das Weite suchen, wenn Gefahr droht, im Gegensatz zum "Rehlein". Rehe dürfen fliehen, wir durften das früher nicht. Die Beliebigkeit von Sprache hängt an der übergeordneten Weltanschauung, d.h. an unserer Konzeption von Welt. So ist es z.B. möglich, sich auf englisch anders auszudrücken, als auf deutsch. Ein Drachen ist im Deutschen gefährlich, im Chinesischen nicht, dort wird er als beschützend gesehen.

Transformationen haben mindestens ‘nen Bedeutungsschwund ("einen" ist hier mehrdeutig, 1 oder auch mehrere) als Basis. Den Bedeutungsschwund können wir mit dem Transzendenzcharakter der Sprache identifizieren: Wenn etwas hinausreicht in die Zukunft zur Sicherung, muss dies zum Schwund von gegenwärtiger Bedeutung führen. So die Bedeutungs-Sucht als Ersatz für Sinn.

Die Erwartung, dass der morgige Tag schöner wird als das Heute, ist nichts als Selbstbetrug und Betrug an den anderen. Und genauso läuft auch der Betrug in der Partnerschaft. Der "klassische" Betrug des "Fremdgehens" hat damit nichts zu tun. Die Flucht aus der Gegenwart ist die Kastration meines Jetztseins. Was heisst da Ver-sprechen? Ich "würde" mich bemühen..., mich zu ändern, die Beziehung intensiver zu gestalten... Wenn ich weiss, wovon ich rede, wozu es dann morgen tun? Jetzt (!) entscheidet sich, was ich am anderen Menschen finde. "Wir haben jetzt eine Krise" (griech. "Entscheidung") signalisiert eine Verfälschung, es handelt sich gar nicht um eine Entscheidung. Griech. "kritein" heisst "unterscheiden". Der andere Mensch ist ein anderer. Unsere Erfahrung ist bisjetzig, und was in der Zukunft kommt, ist eben offen. Was die Beziehung betrifft, gilt, dass wir in angenehmen Zeiten an angenehme Zeiten denken, und in Krisen denken wir an unangenehme Zeiten etc.. "Ziehung" hiesse Traktur, "Be-ziehung" dann Attraktur? oder Subs-traktion nach dem Motto "Vorstellung minus X = Wirklichkeit”. Was ziehen wir so "an Land"? Haie, Goldfische? Der Mann als Bedeutungsverleiher? Bedarf die Tatsache, dass sie sich auf eine Beziehung einlässt, der Würdigung?

Illusionsverluste führen bei Männern zur Furchtreaktion, anstelle von Klarheit, bei Frauen führen sie zur Verwerfung von Autonomie, Selbstannahme, wobei frau dazu ja wissen müsste, was und wer dieses "selbst" ist.

Transformationen sind in der Lage, sprachliche Möglichkeiten zu erweitern. Das lebt aber von der aussersprachlichen Wirklichkeit meiner Stimmung.

Siehe z.B. die gregorianischen Gesänge: Askese mit erotischen Lücken. Die Gregorianik taucht jetzt in der Popmusik auf.

Transformationen sollen den Wortschatz erweitern helfen, ohne neue Wörter erfinden zu müssen.

"Kitz" - "Kitzchen", das klingt komisch in unseren Ohren. "Fliehen" erst recht, oder "fleuchen": "Emma ist fleuchig", damit wäre aber klar, was wir meinen. Das Wort müsste aber erst im Duden erscheinen, bevor wir es benutzen dürften, oder nicht?

Transformationen lassen sich vermeiden durch die Erfindung von neuen Wörtern, die aber auf den alten aufbauen, um einigermassen verständlich zu sein. Das Wort "Änderungsbedarf" z.B. - was meint es? Ändert sich der Bedarf?

Weiter zum Transzendenzcharakter der Sprache: Die Gefährlichkeit dahinter liegt in seiner patriarchalen Nützlichkeit. Sie beruhigt die Nerven und senkt den Blutdruck. Es gibt auch die angemessene Verwendung von Transformationen, indem ich z.B. Zusammenhänge auf "schwierigem Gebiet" ins Humorvolle hole. Die Verständlichkeit ist dann jedoch gegeben, auch sich selbst gegenüber.

Rückumwandlungen von Transformationen sind oft auch wieder eine weitere Transformation. "Schätzlein" - "Schatz". Montresor? Hier ist offen, ob ein Schatz im Tresor ist. Der Schatz setzt den Inhalt voraus.

Ein Schatz im Tresor ist besser, als eine Taube, die gut hören kann. Was meinen wir nun damit? Das Turteltäubchen? Was ist noch übrig vom Ursprünglichen? Schatz - Edelstein - Perle dann aber als Putzfrau. "Mein lieber Schatz" wäre eine Entmaterialisierung, ist er beleihbar?

Transformationen dematerialisieren einen Begriff mit Hilfe der Denotation. Diesen Zusammenhang ordnen wir der Weltanschauung zu (wegen "Dematerialisierung). Die Sinnesorgane sind auf Materie angewiesen.

Dann kommt die Devitalisierung mit dem Selbstabtreibungseffekt und der Architektur der Blockade von Einsicht (Archi-tekt, heisst das "der Alte schützt"?). Hier auch der Leichtsinn als Spiel mit dem Leben (Kalkül). Das Schifahren z.B. "macht" ein tolles Gefühl, die Stresshormone sind erhöht. Die Gefahr, auf der Strasse unter die Räder zu kommen, ist höher als auf der Piste, aber eben nur, weil es dort weniger Räder gibt.

Die Demotivation geht einher mit Insuffizienzempfindungen. Hier heiligt der Zweck die Mittel. Das Insuffizienzempfinden wird durch den Rausch verdeckt, die Suche nach dem unbekannten Selbst. Kennzeichen einer Sucht: Sie "schmeckt" nicht mehr, so z.B. der Wein: Sorge vermehrt die Weinwirkung, 2 Gläser wirken wie 5. Wein wirkt dabei belebend.

Die Alienation ist die perfekte Verfremdung. Wir sind uns nur bekannt als Verfremdete. Alienation geht einher mit dem Ambivalenzempfinden, es sorgt sich um Verschonung. Im Ambivalenzempfinden "haben" 2 Dinge, die sich ausschliessen, beide Wert für uns. Wir suchen dann das übergeordnete Dritte als Flucht in die Zukunft. Die Überdehnung der Sorge steigert die Fluchttendenzen - und wir bleiben noch ein Weilchen.

Die Delimitation ist der Zustand nach der Entgrenzung, gekoppelt an Gefühllosigkeit, fatalistisch geprägt, verbunden mit dem Empfinden der konstruierten Not bei irrealer Idee von dem, was gekonnt werden sollte. Die konstruierte Not ist ein Zustand von Nichtkönnen: Was ist daran Not, wenn ich etwas nicht kann? Dann lerne ich es eben, oder ich lass es, akzeptiere dabei physiologische Grenzen. Ich kann nun mal 1 Tonne Gewicht nicht hochheben. Dazu brauche ich einen Kran. Die Götter- oder Göttinnenrolle als Beispiel der Delimitation, sie weist Transzendenzcharakter auf.

Die Depersonalisation ist die Entpersönlichung: Es klingt nicht mal mehr hinter der Maske. Dabei Schwermut, mit paranoiden Gedanken: "Das Leben ist schwer", "hart", "es hat etwas gegen mich". Hier auch der Rückzug zur "Unperson" als gutes Charakteristikum: Wissen, wann man sich zurückziehen muss.

Die Derealisation ist das narzisstische Festhalten an der Verwechslung von Wahrheit mit der Existenz eigener Idee im eigenen Kopf. Dazu ist die Amnesie wichtig: Ich muss mich daran erinnern, woran ich mich nicht erinnern darf.

Die Dekompensation geht einher mit Substanzabbau, Empfinden von Ohnmacht, Askese, Hilflosigkeit, Melancholie, Sehnsucht nach der Verliebtheit. Was ist daneben schon ein heiteres Jasagen? Resignation als Basis für Routine. "Die Arbeit wartet..."

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